Es wird Ernster

Nach dem Rentnercampingplatz empfing uns Sizilien mit offenen Armen, was grösstenteils, da machen wir uns nichts vor, an Ana und Elle lag und liegt. Wir profitieren alle von dieser immensen Kinderliebe und können Eltern einen Aufenthalt in Italien nur ans Herz legen. Da ist immer eine helfende Hand, immer ein nettes Wort und Wünsche werden von den Augen abgelesen.
Wir verbrachten spannende, lustige, mühsame, laute und leise Tage, sahen hübsche Dinge und weniger Schönes, hatten interessante Begegnungen und merkwürdige, fanden traumhafte wilde Schlafplätze und ausnahmslos lieblose Campingplätze. Entdeckten schöne Strände, hässliche Strände, wunderbare Altstädte und eine faszinierende, vielfältige Landschaft, viel Müll und hässliche Bauten und einen ausgezeichneten Kitespot.
Es gäbe einiges zu erzählen, aber da ich mit meiner Erzählung sehr im Rückstand bin, beschränke ich mich auf die Rosinen. Und so komme ich sogleich zum Tag meiner Heldentat, zum Tag, an dem ich den Karren aus dem Dreck gezogen habe.

Wir standen einmal mehr an der Lagune Lo Stagnone, einsamer Kitespot und ruhiger, wunderschöner Übernachtungsplatz zugleich – jedenfalls in der Nichtsaison. Als wir zum ersten Mal dort ankamen, sprang Ana aus dem Wagen, rief „Herrlich, Mama! Können wir hier ein bisschen wohnen?“ Und so wurde es uns ein wenig zum Zuhause.

Es hatte in der Nacht geregnet und wir wollten gegen Mittag los Richtung San Vito Lo Capo, um eine Unterkunft für unsere bald eintreffende Besucherin aus der Schweiz zu finden. Der Boden war nass, mancherorts hatten sich schlammige Pfützen gebildet. Der Mann fuhr direkt auf eine zu und ich möchte ihn hier nicht unnötig schlecht aussehen lassen, aber meine ausdrückliche Warnung kam früh genug. Mann wollte jedoch nicht auf mich hören, Ernst fuhr also schwungvoll in das schlammige Nass. Ich schloss die Augen, der Mann gab Gas, das linke Vorderrad drehte durch. Der Mann gab mehr Gas, das Rad drehte mehr durch und ich versuchte es ihm nicht gleichzutun. Der Mann gab weiterhin tapfer Gas. Ich stieg aus. Schaute mir das Unausweichliche an. Das durchdrehende Rad spritze mir Schlamm ins Gesicht und grub sich immer tiefer ein. Der Mann liess die Sache mit dem Gas endlich sein und schaute ratlos. Elle schrie wie am Spiess, ich begleitete sie also erstmals in den Schlaf. Mit einem Auge sah ich dabei den nicht sehr vielversprechenden Versuchen zu, den Ernst aus dem Loch zu kriegen. Der Mann versuchte es mit einem eher minimalistischen Stück Holz und ein paar Händen voll Sand. Es flog ihm alles um die Ohren. Als er Ana sah, wie sie mit ihrem Sandspielzeug im Schlamm spielte, kam ihm die zündende Idee. Er entwendete ihr kurzerhand die kleine Plastikschaufel und begann, das Rad frei zu kratzen. Ich holte mein Telefon und krümmte mich während des Fotografierens schon vor unterdrücktem Lachen. Als der Mann dann zu einem ernsthaften Wutanfall bezüglich der schlechten Spielzeugqualität ansetzte, konnte ich meine Heiterkeit nicht mehr verbergen und der Mann lachte herzlich mit. Kind und Mann spielten weiter im Schlamm, Ana ganz begeistert ob dem unerwarteten Abenteuer. In der Zwischenzeit suchte ich die Umgebung nach brauchbaren Hilfsmitteln ab und fand Palmenblättern und ein Stück Teppich. Diese Dinge drapierten wir vor und, so gut es ging, unter das Rad. Der Teppich flog uns zwar um die Ohren, doch es reichte tatsächlich aus, das Rad fand Halt und der Mann konnte den Ernst unter mehrmaligem hin und her schaukeln und lauten Anfeuerungsrufen seitens Ana und mir aus dem Schlammloch befreien. Mit glänzenden Augen, roten Wangen und einem sensationellen Glückshoch fuhren wir los.


Die Freundin aus der Heimat kam an und mit ihr stand auch Weihnachten vor der Tür, welche wir zu siebt in feiner Runde mit Feuer am Meer zelebrierten.


Es folgte gemütliche Reiserei und viele schöne gemeinsame Stunden, bis zum Tag, an dem ich eine Antiheldentat beging. Wir waren auf dem Weg zu einer natürlichen heissen Quelle, von welcher wir von einer Reisebekanntschaft erfahren hatten. Meine Internetrecherche bezüglich dem genauen Standort war etwas dürftig, ich ging jedoch davon aus, dass wir uns vor Ort problemlos durchfragen könnten. TomTom meldete eine Abzweigung vor uns, nichts ahnend gehorchten wir. Der Mann äusserte jedoch schon nach der ersten Kurve Bedenken, da die Strasse ganz schön eng war. Ich, die stets mutige Beifahrerin, beruhigte ihn. Er fuhr weiter, murrte gewaltig. Als ein sogar für italienische Verhältnisse enger Dorfeingang mit bedrohlich tief hängenden Balkonen und Stromleitungen vor uns auftauchte, wurde es auch mir etwas mulmig. Ich schlug sofortiges Anhalten vor, was jedoch nicht möglich war, da der Ernst bereits die ganze Strasse verstopfte. Beherzt und ziemlich übellaunig fuhr der Mann ins Dorf hinein, niemand wünschte sich in seiner Haut zu stecken. Ich machte mich ganz klein auf meinem Sitz, es schwante mir übles. Der Mann nahm die einzige Anhaltsmöglichkeit am Strassenrand wahr und riss dabei fast eine Stromleitung mit. Mit Zornesröte im Gesicht sprang er aus dem Ernst und stampfte davon. Die Freundin und ich blickten uns ratlos an. Wir hegten noch Hoffnung, dass die Strasse wieder breiter würde und wir in Bälde gemütlich im heissen Nass liegen würden. Ich fragte die erste Passantin, eine ältere Frau, hoffnungsvoll nach der Therme. Sie musterte mich missbilligend von Kopf bis Fuss und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie erstens keine Ahnung hat von was ich spreche und dass sie mich zweitens für ziemlich bescheuert hält. Als sie zu guter Letzt noch den überdimensionierten Ernst in seiner misslichen Lage entdeckte, fühlte sie sich in ihrem Verdacht ganz bestätigt. Der Mann kehrte zurück, sein Gesichtsausdruck sprach Bände, die ich lieber nicht lesen wollte. Ab der nächsten Kurve hingen die Balkone so tief, dass eine Durchfahrt unmöglich war. Es gab nur eine Lösung und die ist der Wohnmobilistenalptraum schlechthin: mehrere hundert Meter rückwärts in einer engen Einbahn zurücksetzen.

Der Verkehr musste Platz machen, damit der Ernst zurück konnte. Die Freundin stellte sich mitten auf die Strasse, was einen alten Italiener in seinem Fiat nicht daran hinderte weiter zu fahren, bis ihr nur eine Sprungflucht blieb und der Alte tatsächlich zu Ernst aufschloss und ein Hupkonzert eröffnete. Ich, nun wirklich am verzweifeln, versuchte dem sturen Bock mit fehlenden Worten aber umso wilder gestikulierend weiszumachen, dass er zurück und auf die Seite soll. Das ganze Szenario wurde untermalt von wilden Fluchtiraden aus dem Ernst, irgendwo weit weg. In der Zwischenzeit reihten sich dahinter weiter Italiener auf. Also blieb nur der Weg nach vorne in eine unwahrscheinlich steile Seitenstrasse, damit wir den wildhupenden Verkehr erstmals durchlassen konnten. Ich sagte dem Mann, dass er in die Seitenstrasse fahren soll, er fand mich sehr, sehr blöd. Gab in seiner mittlerweile beachtlichen Wut mehr Gas als nötig und jagte den armen Ernst den Steilhang rauf. Plötzlich ein markerschütterndes Geräusch von Metall auf Beton, ich kreischte laut auf. Das ganze ernst`sche Hinterteil sass auf der Strasse auf, als wolle es mit dem Asphalt verschmelzen. Ich raufte mir die Haare und war mir sicher, dass unser Zuhause nun im wahrsten Sinne des Wortes am Allerwertesten sei. Nun kam auch noch Verkehr vom Steilhang runter und hupte das Hindernis an. Ich lief zum Mann, der bewegungslos hinter dem Steuer sass, ziemlich bleich um die Nase und riet ihm dazu, den Motor auszumachen, auszusteigen und wegzugehen. (So mache ich das, hier nach zu lesen) Der Mann gehorchte, brach jedoch beim Anblick von Ernst`s Hinterteil in einen filmreifen Wutanfall aus, der sich geballt gegen mich richtete, die Schuldige. Er brüllte mich lauthals an. Ich fühlte mich ein bisschen schuldig und hatte grosse Lust ein wenig zu heulen, brüllte jedoch mit sich überschlagender Stimme zurück. Unten fuhr der Verkehr nun vorbei, die blockierten Fahrer vom Steilhang waren in der zwischen Zeit ausgestiegen und beobachteten gelassen, wie der Mann nun dazu überging, seine FlipFlops an den Ernst zu schmeissen. Unsere Freundin wiederholte immer wieder, dass es schon eine Lösung gäbe. Ana war im Ernst und in ein Rollenspiel vertieft, nahm von alledem keinen Notiz. Elle hielt es ausnahmsweise nicht für nötig zu brüllen, vielleicht, weil es schon genug Gebrüll gab. Ich schaute mir den aufgebockten Ernst an, liess meine Hand zum Telefon in meiner Tasche gleiten und wollte es für ein reisserisches Foto zücken. Ein kurzer Blick zum Mann liess mich von meinem Vorhaben absehen.

Die blockierten Fahrer hatten nun genug von diesem Spektakel, sagten dem Mann er solle jetzt einfach zurücksetzen und alles werde gut. Der Mann brüllte ein letztes Mal in meine Richtung und gehorchte. Ich schloss die Augen in der festen Überzeugung, dass nun das ganze Heck vom Ernst zerreissen würde. Ein hässliches Geräusch später öffnete ich meine Augen einen Spalt und erblickte einen erstaunlich unzerstörten Ernst.
Die nächsten gefühlten drei Stunden verbrachten wir mit Rückwärtsfahren, Zentimeter um Zentimeter. Der Mann, bleich und zittrig, stieg immer wieder aus um uns mitzuteilen, dass er nun nicht mehr weiterfahren würde. Ich traute mir dieses Manöver nicht zu. So bezirzten die Freundin und ich ihn mit geballter weiblicher List Lieblichkeit, gleich Nymphen ihren Herkules. Schliesslich war es geschafft, der Mann zu recht ein gefeierter Held. Ein älterer Italiener, der die ganze Geschichte mitbekommen hatte, erwartete uns am Ende der Strasse mit einer Tüte voll frischer Orangen, welche er uns mit einem warmen Lächeln, einem Zwinkern und guten Weiterfahrtswünschen überreichte.
Ich sah im TomTom, dass ich eine falsche Ortschaft eingegeben hatte, murmelte kleinlaut etwas von einer neuen Route und dass es jetzt wirklich nicht mehr weit sei.Keine halbe Stunde später konnten wir baden, im heissen Wasser, dessen Quelle der Legende nach von Nymphen zur Erquickung  Herkules erschaffen wurde. Unser zitternder Herkules brauchte eher Entspannung. Und die Moral von der Geschicht – ohne Doofheit gäbs auch Abenteuer nicht.

3 Gedanken zu “Es wird Ernster

  1. Oh, da habe ich aber wirklich gelacht 😂! Wenigstens sind die Italiener mit einem lauten Streit auf offener Straße nicht überordert! Und auch nicht mit fliegenden Flip-Flops…

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  2. Meine Lieben

    Mit riesiger Vorfreude habe ich den letzten Beitrag Eurer Abenteuerreise gelesen. Herrlich!!! Man kann sich richtig in jeden von Euch hineinfühlen. Bei uns kommt jetzt dann die Eiszeit…

    Liebi Grüessli Syle

    Von meinem iPhone gesendet

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  3. Hey Hallo ihr lieben!
    wow……nervenaufreibend 🙂
    seit ihr auch weiter nach hinten gegangen? dem Bacherl rückverfolgend in die „schwitzhöhle“?herrlich…..

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